„Ich bin mehr als HIV“ – Petes zweiter Frühling

Zeichnung von Petes Sohn für seine Mama: “Du bist die beste Mutter der Welt!” (Foto: DAH)

Zeichnung von Petes Sohn für seine Mama: “Du bist die beste Mutter der Welt!” (Foto: DAH)

Pete ist HIV-positiv – und obwohl die Diagnose längst kein Todesurteil mehr ist, haben Menschen wie sie immer noch mit Vorurteilen und Diskriminierung zu kämpfen. Doch Pete hat noch ein ganz anderes „Problem“: Sie kommt nicht aus Deutschland.

Petes Lächeln ist furchtbar ansteckend. Es fängt bei ihren eisblau blitzenden Augen an, wandert weiter über die unzähligen Lachfältchen und mündet in ihren weit angehobenen Mundwinkeln, die schneeweiße Zähne freigeben. „Ich bin sehr glücklich, seit ich hier bin“, sagt Pete (Name geändert, Anm. d. Red.) und schiebt einen Satz hinterher, der auf den ersten Blick so gar nicht in den Kontext passen will: „Ich habe so viele tolle Menschen kennengelernt – und ich weiß nicht, ob ich dieses Glück auch hätte, wenn ich kein HIV hätte.“ Da ist es wieder, dieses unnachahmliche Lächeln – es ist das Einzige an Pete, das ansteckend ist.

HIV in Deutschland – Zahlen und Fakten
2012 haben sich etwa 3400 Menschen in Deutschland mit HIV infiziert, drei Viertel davon schwule Männer, schätzt das Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin. Hinzu kommen etwa 14.000 HIV-Positive, die noch nichts von der Infektion wissen – weil sie keinen Test gemacht haben. Insgesamt lebten in Deutschland Ende 2012 schätzungsweise 78.000 Menschen mit HIV oder Aids. Man schätzt, dass etwa 25 Prozent von ihnen aus anderen Ländern stammen. Zum Vergleich: Insgesamt leben in Deutschland rund 15,7 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund – das sind etwa 19,5 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Seit beinahe zehn Jahren weiß die 33-Jährige von ihrer Krankheit – und kann heute dank moderner Behandlungsmethoden ein weitgehend beschwerdefreies Leben führen. Wenn Pete die für ihre retrovirale Therapie notwendigen Kombinationspräparate regelmäßig einnimmt, liegt die sogenannte Viruslast permanent unter der Nachweisgrenze. Theoretisch könnte sie sogar ungeschützten Sex mit ihrem gesunden Mann haben. Alles gut also? Mitnichten, denn neben ihrer HIV-Infektion hat Pete noch ein ganz anderes „Problem“: Sie kommt nicht aus Deutschland.

„Obwohl sich die Zeiten geändert haben, kommt es immer noch oft genug vor, dass eine HIV-Diagnose allein schon zur Ausgrenzung führt“, sagt Tanja Gangarova, Referentin für Migration bei der Deutschen Aids-Hilfe. „Menschen wie Pete stehen aber vor einem ungleich größeren Problem: HIV-positive Migranten erfahren nicht nur eine Stigmatisierung aufgrund des HIV-Status, auch Rassismus, Islamophobie, Xenophobie sowie strukturelle Diskriminierung, also der mangelhafte Zugang zum Gesundheitssystem in Deutschland, zum Arbeitsmarkt und zur Bildung spielen eine Rolle. Man spricht hier vom Phänomen der mehrfachen Stigmatisierung.“ Diese Erfahrung musste Pete am eigenen Leib machen – und obwohl die kleine Frau mit der unbändigen Energie solcherlei Probleme größtenteils abgeschüttelt hat und den Blick nach vorne richten könnte, setzt sie alles daran, die Hürden für die, die ihr nachfolgen, abzubauen. Ein Blick in ihre schwierige Vergangenheit hilft beim Verstehen.

„Ich habe immer von mehr Rechten geträumt“

Eine richtige Heimat hat Pete als Kind marokkanisch-syrischer Eltern nie. Alle drei oder vier Jahre muss die Familie umziehen, wenn der Vater – Ingenieur von Beruf – an einem neuen Projekt arbeitet. „Das hatte seine guten Seiten: Ich kann mich ziemlich schnell neuen Gegebenheiten anpassen. Und dass ich sechs Sprachen spreche, kommt ja auch nicht von ungefähr“, sagt Pete. Aber enge Freundschaften und die Verwurzelung mit einem Ort sind dem Mädchen fremd – auch wenn die ständigen Ortswechsel in der Retrospektive noch nicht einmal an der Spitze des emotionalen Eisbergs kratzen.

Die Veränderung, die Pete durchmacht, wenn sie versucht, über die Vergangenheit in ihrer „Heimat“ zu sprechen, ist deutlich greifbar: Der „ewige Wortwasserfall“, wie sie ihr Mitteilungsbedürfnis scherzhaft selbst nennt, versiegt allmählich – und aus ihren sonst so intensiven Augen verschwindet das lebhafte Blitzen. „Ich komme aus einem Land, in dem die Menschenrechte nicht respektiert werden und bin in einer von Männern dominierten Kultur aufgewachsen“, bricht es aus ihr heraus. „Ich habe immer von mehr Rechten geträumt, von Freiheit…“ Die Art, wie Pete das sagt, lässt nur erahnen, welche dunklen Schatten wirklich auf ihrer Seele lasten. Wie durch ein Wunder behält das Mädchen seinen Lebensmut und wächst zu einer starken, selbstbewussten Frau heran. Resilienz nennen Wissenschaftler die Fähigkeit, aus jedem noch so herben Niederschlag gestärkt hervorzugehen. Eine Fähigkeit, die sich wie ein roter Faden durch Petes Leben zieht.

Aber selbst die größte psychische Widerstandsfähigkeit hilft am Ende des Tages herzlich wenig, wenn einem die Gesellschaft pausenlos Stöcke zwischen die Beine wirft. Sogar im vergleichsweise toleranten Algerien, wo Pete später Literaturgeschichte studiert und ihr erstes Kind zur Welt bringt, kann sie nicht angstfrei leben. „Als alleinerziehende Mutter mit konkreten Vorstellungen vom Leben hast Du im islamischen Raum keine Chance“, sagt sie und zieht schließlich die Konsequenzen: Deutschland soll ihre neue Heimat werden. „Ich wollte dahin, wo meine Rechte als Frau anerkannt werden. Mein Traum war, dass ich nicht sofort in eine Schublade gesteckt werde. Dafür war ich bereit, jegliche Beschränkung hinzunehmen.“

Pete kann heute keine Äpfel mehr essen: Im Asylheim waren sie das einzige Obst (Foto: DAH)

Pete kann heute keine Äpfel mehr essen: Im Asylheim waren sie das einzige Obst (Foto: DAH)

Und Beschränkungen gibt es in ihrer neuen Wahlheimat jede Menge: Anstatt sich in Deutschland ein neues Leben aufbauen zu können, muss Pete in einer „Zentralen Erstaufnahme“ zur Untätigkeit verdammt auf die Annahme ihres Asylhilfeantrags warten – drei lange Jahre. Wenn sie von damals erzählt, klingt es ein bisschen wie eine Knastgeschichte: Mehrbettzellen, jeden Tag der gleiche Fraß und am Ende jeder Mahlzeit eine Leibesvisitation durch die Wachen, die sicherstellen sollen, dass Pete auch ja keine Essensreste mit auf ihr Zimmer nimmt – offiziell, um die Hygiene zu gewährleisten und Schädlinge fernzuhalten. „Nach jeder Durchsuchung fragte ich mich, ob ich noch ein freier Mensch bin oder schon eine Kakerlake“, wird Pete später im Rahmen eines Projektes schreiben, das ihr hilft, das Erlebte zu verarbeiten.

Auf die Möglichkeit, einen Deutsch- oder Integrationskurs belegen – „Vera am Mittag“ und Mickey-Mouse-Comics müssen als Grundlage für ihr heute einwandfreies Deutsch herhalten – oder sich anderweitig nützlich machen zu dürfen, wartet sie vergeblich. Dafür verschlimmern sich die Magenbeschwerden, mit denen Pete schon seit längerem zu kämpfen hat. Außer Obst kann die damals 23-Jährige kaum noch etwas bei sich behalten, im Heim gibt es allerdings nur Äpfel – bis heute dreht sich ihr bei ihrer ehemaligen Lieblingsfrucht der Magen um. Ärztliche Betreuung erfährt Pete erst, als sich ihr Zustand so weit verschlechtert, dass um eine Operation kein Weg mehr herumführt. Ihr vier Jahre alter Sohn muss für die Zeit ihres Krankenhausaufenthaltes in ein Waisenhaus, die völlig aufgelöste Frau selbst wird bei der Voruntersuchung dazu gedrängt, einen Wust an Papieren zu unterschreiben, die sie nicht versteht und selbst auf Nachfrage nicht auf Englisch bekommt. Darunter ist auch die Einverständniserklärung zu einem HIV-Test.

„Ein einziges Plakat kann Leben retten“

„Positiv“, lautet der lapidare Befund des Arztes. Kein Wort des Bedauerns, keine Tipps, keine psychologische Betreuung. Nur der Hinweis, dass die ursprünglich geplante Operation in zehn Tagen stattfinden soll. „Ich habe das Meiste verdrängt“, sagt Pete, wenn sie versucht, sich an die schwierige Zeit nach der Diagnose zu erinnern – und muss unwillkürlich lächeln. „Das hört sich jetzt vielleicht verrückt an, aber: Im Vergleich zu dem, was ich vor meiner Flucht nach Deutschland erlebt habe, war die Diagnose nur ein weiteres Übel, mit dem ich lernen musste, umzugehen.“ Kurz huscht ein Schatten über ihr Gesicht, dann fügt sie hinzu: „Viel schlimmer war für mich, dass ich so komplett alleingelassen wurde.“

"Ein einziges Plakat kann Leben retten", sagt Pete - sie weiß, wovon sie redet. (Foto: picture alliance / dpa)

„Ein einziges Plakat kann Leben retten“, sagt Pete – sie weiß, wovon sie redet. (Foto: picture alliance / dpa)

Kaum auszudenken, durch welche persönliche Hölle Pete in diesen zehn Tagen gegangen sein muss, nur eines steht fest: „Ich habe an Suizid gedacht, nicht nur einmal.“ Aber sie entschließt sich, weiterzumachen – und wenn es nur für ihren Sohn ist.

„Es reicht, wenn Dir jemand die Hand reicht, um Dir  aus dem Loch zu helfen. Der Rest geht von ganz alleine“, sagt Pete mit zehn Jahren Abstand. Die helfende Hand ist in ihrem Fall ein junger Assistenzarzt, der zufällig mitbekommen hatte, wie die junge Frau von seinem Kollegen abgefertigt worden war und auf eigene Faust nach Hilfsangeboten recherchierte. Weil es damals noch keine vergleichbaren Angebote für Migranten gibt, schickt er Pete zu einer Schwulenberatung – immerhin besser als gar nichts. Die zweite helfende Hand entdeckt die junge Frau in Form einer Telefonnummer auf einem Kampagnenplakat der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, kurz BZgA: „Ein einziges Plakat kann Leben retten“, sagt sie heute.

Von da an geht es aufwärts mit Pete: Die Therapie schlägt gut an, bald schon geht es ihr körperlich besser. Die Begleitangebote spenden neuen Lebensmut – und als sie schließlich ihren heutigen Mann kennenlernt, erlebt Pete einen zweiten Frühling. „Ich wollte unbedingt ein zweites Kind haben. Als die Ärzte grünes Licht gegeben haben, wusste ich: Wenn so etwas möglich ist, ist alles möglich.“

In den darauffolgenden Jahren löst sich Pete aus der Rolle der passiven Hilfsempfängerin und engagiert sich, wo sie nur kann. Ob als Sprecherin einer Selbsthilfegruppe, beim Kochen mit anderen HIV-Positiven in der „Weltküche“ oder als Schauspielerin im „Mobilen Aufklärungstheater“: „Ich möchte den Menschen ein Fenster in eine andere Welt öffnen, die gar nicht so anders ist.“

„Jeder Mensch hat etwas anzubieten“

Wie treffend das Bild ist, das Pete zeichnet, zeigt sich bei ihrem neuesten Projekt, dass sie zusammen mit anderen HIV-positiven Migranten in den vergangenen beiden Jahren verwirklicht hat: „AfroLebenVoice – Unsere Stimmen gegen Diskriminierung“ zeigt auf beeindruckende Art und Weise, mit welch unterschiedlichen Gefühlen jeder Mensch vermeintlich vertraute Begrifflichkeiten besetzt. Auf jeder Doppelseite des Fotobuches findet sich ein Bild mit zugehörigem Text, in Petes Fall ist das der oben erwähnte Apfel: Rund, knackig und lecker sieht er auf dem Foto aus – so oder so ähnlich würden ihn wohl die meisten von uns beschreiben. Pete wiederum schreibt nach ihren Erfahrungen in der Erstaufnahmeeinrichtung: „Heute habe ich einen zwar nicht ganz sicheren, aber besseren Aufenthaltsstatus und kann mir mittlerweile Äpfel leisten. Ich kann sie aber nicht mehr essen – sie hinterlassen bei mir einen bitteren Nachgeschmack.“
Es sind genau diese Brüche in der gemeinsam geglaubten Wahrnehmung, die so unter die Haut gehen – übrigens auch in die andere Richtung. „Wir wollten die Vielfalt zeigen: Auf jede traurige Geschichte folgt eine, die Mut macht“, sagte Pete. In ihrem Fall ist das ein Bild, gemalt von ihrem jüngsten Sohn. „Ich habe mich immer gefragt, ob ich eine gute Mutter bin, ob meine Kinder glücklich sind. Vor ein paar Tagen kam mein Sohn zu mir und sagte: ‚Mama, ich liebe Dich so sehr, Du bist die beste Mutter der Welt. Du bist so gut zu uns, dass ich Dich kopieren möchte, so können auch andere Kinder so eine tolle Mutter haben.‘ Das ist das schönste Kompliment, das eine Mutter kriegen kann! So sind meine tollen Kinder: Sie geben mir das Gefühl, gebraucht und geliebt zu sein – und vor allem geben sie mir die Kraft zum Weiterleben.“

Das Fotobuch, angeschoben und unterstützt von einem Sonderprojekt der Deutschen Aids-Hilfe, hat sich längst zum Selbstläufer entwickelt. „Das Buch hat für eine Aufbruchsstimmung in der Community gesorgt. Manche von uns haben zum ersten Mal in ihrem Leben die Erfahrung gemacht, dass jeder Mensch etwas anzubieten hat.“ Petes Augen leuchten, wenn sie von den Plänen ihrer Gruppe erzählt: „Vielleicht schaffen wir es ja mit unseren Projekten irgendwann bis in die Politik. Es gibt so viele Themen, über die geredet werden müsste: Alleine diese unsägliche Residenzpflicht ist ein Gesetz, das sich schon längst überlebt hat.“

Die Ziele, die Pete sich gesteckt hat, mögen auf den ersten Blick unerreichbar scheinen – die größte Erkenntnis aber liegt längst als Gewissheit vor ihr: „Ich bin mehr als HIV“, sagt Pete und lächelt wieder ihr furchtbar ansteckendes Lächeln.


Quelle: n-tv