HIV-PrEP – worauf warten wir eigentlich?

Startblock_CreditNicholas Feustel fragt: Wenn weitgehend Einigkeit herrscht, dass die HIV-PrEP funktioniert, wenn man sie nimmt – warum setzen wir uns dann nicht alle dafür ein, dass diese neue Präventionsmöglichkeit auch in Deutschland Wirklichkeit wird?

Aus anerkannten wissenschaftlichen Studien (iPrEX-Studie und iPrEX-OLE-Studie) wissen wir, dass die tägliche Einnahme einer Tablette Truvada eine sehr hohe Schutzwirkung (im oberen 90-Prozent-Bereich) vor HIV bietet. Ebenso wissen wir, dass nicht alle Menschen jedes Mal, wenn sie Sex haben, Kondome verwenden (siehe zum Beispiel die Ergebnisse der Wiederholungsbefragung „Schwule Männer und HIV/Aids“). Da könnte doch die HIV-PrEP gerade für Menschen aus den Gruppen, die am stärksten von HIV betroffen sind, eine zusätzliche oder alternative Schutzmöglichkeit sein.

Was also könnte gegen die PrEP sprechen?

Mangelnde Wirksamkeit?

Die PrEP wirkt nur, wenn man sie auch wirklich regelmäßig nimmt. Aber auch Kondome wirken nur, wenn man sie benutzt. Mit zwei Unterschieden:

1) Ein Kondom, das nicht verwendet wird, bietet gar keinen Schutz. Wenn man dagegen mal eine oder zwei Einnahmen von Truvada vergessen hat, bietet die PrEP immer noch einen sehr hohen Schutz vor HIV.

2) Kondome müssen oft dann angewendet werden, wenn man gerade voll unter dem Einfluss von körpereigenen Endorphinen, Alkohol, Drogen oder Liebe ist. Das kriegt nicht jeder immer so gut hin. Die Entscheidung für die PrEP kann man bei klarem Verstand treffen.

Auch Kondome wirken nur, wenn man sie benutzt

Kritiker sagen nun, dass viele schwule Männer in den Studien nicht in der Lage waren, jeden Tag eine Pille zu schlucken, und dass die PrEP deshalb nicht funktionieren werde.

Nun, Studiensituationen sind nie mit dem realen Leben gleichzusetzen. An Studien nehmen durchaus auch Menschen teil, die im wirklichen Leben gar keine PrEP nehmen würden – zum Beispiel, weil sie in Ländern leben, wo sie nach Studienende sowieso keinen Zugang zur PrEP hätten, oder weil sie für sich selbst gar keine hohe Ansteckungsgefahr sehen. Auch sind viele Gründe dafür vorstellbar, die Tabletten nicht wie vorgeschrieben einzunehmen. Die Motivation zur Studienteilnahme kann etwa auch darin bestehen, regelmäßig die kostenlose Möglichkeit zu einem Arzttermin zu bekommen – was in einigen Ländern, in denen die Studien durchgeführt wurden (Peru, Ecuador, Brasilien, Südafrika, Thailand und USA), keine Selbstverständlichkeit ist. Und vorstellbar ist auch, dass die Truvada-Tabletten, die man als Studienteilnehmer umsonst bekommt, gewinnbringend auf dem Schwarzmarkt verkauft werden.

Millionen von Frauen bekommen es hin, regelmäßig die Anti-Baby-Pille zu nehmen. Warum sollten schwule Männer es nicht auch hinbekommen, täglich eine Tablette zu nehmen? Die Studienergebnisse zeigen , dass diejenigen mit den meisten Sexpartnern und den meisten kondomlosen Sexkontakten auch die höchste „Therapietreue“ aufwiesen. Diejenigen, für die die PrEP gedacht ist, können sich selbst und ihr Verhalten also offenbar ganz gut einschätzen.

In der HIV-Prävention sprechen wir doch oft von Selbstbestimmung. Sollten wir es Menschen dann nicht auch überlassen, ob sie regelmäßig eine Pille schlucken? Kondome empfehlen wir auch – und überlassen es der Selbstbestimmung des Einzelnen, ob er sie benutzt. Ebenso empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass schwule Männer über die PrEP nachdenken sollten.

Die Nebenwirkungen?

Ein häufig genanntes Argument gegen die PrEP sind die Nebenwirkungen von Truvada. Doch Truvada, das aus den beiden Wirkstoffen Tenofovir und Emtricitabin besteht, wurde unter anderem deshalb als erster Kandidat für die PrEP-Forschung ausgewählt, weil es schon seit Jahren erfolgreich in der HIV-Therapie eingesetzt wird und als eins der nebenwirkungsärmsten HIV-Medikamente gilt.

Langfristig kann sich Truvada auf die Nierenfunktion und in seltenen Fällen auf die Knochendichte auswirken. Die PrEP-Studien zeigen aber, dass diese Nebenwirkungen nach Absetzen der PrEP vollständig reversibel sind, das heißt, die Nieren und Knochen erholen sich danach wieder. Da man bei einer PrEP alle drei Monate medizinisch untersucht wird, kann man sie bei ersten Anzeichen von schwereren Nebenwirkungen frühzeitig abbrechen.

Jedes Medikament hat Nebenwirkungen

Natürlich: Truvada ist ein Medikament mit Nebenwirkungen. Aber es gibt kein Medikament ohne Nebenwirkungen. Läse man sich die Nebenwirkungen von Aspirin durch, würde man sich wohl auch überlegen, ob man das Medikament nehmen will … .

Außerdem ist die Einnahme von Truvada als PrEP ja auch nicht als lebenslange Strategie für jeden gedacht, sondern für Phasen im Leben mancher Menschen, in denen sie die am besten geeignete Präventionsmethode ist.

Resistenzentwicklung?

Einige sind besorgt, dass sich durch die Einführung der PrEP Resistenzen gegen die Wirkstoffe von Truvada entwickeln und dadurch ein sehr gut wirksames HIV-Medikament nicht mehr in der Therapie eingesetzt werden kann.

Wo kein Virus, da keine Resistenzentwicklung

Resistenzen können sich aber nur entwickeln, wenn ein HIV-Infizierter nur Truvada nimmt anstatt der dann eigentlich nötigen „Dreier-Kombi“, er also nur mit zwei statt drei Wirkstoffen behandelt wird – Truvada alleine kann das Virus nicht in Schach halten. Bei HIV-Negativen dagegen können sich keine Resistenzen entwickeln, weil kein Virus da ist, das resistent werden könnte.

Außerdem wurde Truvada auch deshalb als PrEP-Kandidat ausgewählt, weil es ein sehr gutes Resistenz-Profil hat: Sind die Wirkstoffe einmal gut im Körper etabliert, haben sie eine recht lange Halbwertzeit, sodass auch das gelegentliche Vergessen der Einnahme noch nicht gleich zu einer zu niedrigen Schutzwirkung führt (was zu einer Ansteckung mit HIV und dann auch zur Resistenzentwicklung führen könnte).

Darüber hinaus ist es recht unwahrscheinlich, dass HIV  gleichzeitig gegen beide der Wirkstoffe in Truvada resistent wird. Und nicht zuletzt gilt: Gegen Truvada resistente Viren werden weniger leicht auf andere Menschen übertragen (siehe dazu auch hier).

Risikokompensation?

Kann die Risikosenkung durch die PrEP dazu führen, dass ihre Nutzer mehr Risiken eingehen als vorher (zum Beispiel seltener Kondome benutzen) und damit die eigentlich hohe Schutzwirkung wieder zunichtemachen?

In den PrEP-Studien konnte dies nicht beobachtet werden. Eher im Gegenteil: Einige PrEP-Nutzer gaben sogar an, häufiger Kondome zu verwenden als vorher. Eine Erklärung: Die PrEP nimmt die Angst beim Sex. Menschen, die nicht immer Kondome verwenden, wissen sehr wohl, dass sie sich dadurch leichter mit HIV anstecken können. Das führt dazu, dass doch immer ein wenig Angst und oft auch ein gewisses Schuldgefühl beim Sex dabei ist. Wenn die PrEP nun die Angst (und Schuldgefühle) nehmen kann, kann das auch dazu führen, dass man sich beim Sex einfach wohler und auch selbstbewusster fühlt – und dass es dann vielleicht sogar häufiger auch mal wieder mit Kondomen klappt.

Mehr sexuell übertragbare Infektionen (STIs)?

Die PrEP schützt, anders als Kondome, nur vor HIV, aber nicht vor anderen STIs, wenngleich viele STIs auch bei Kondomgebrauch übertragen werden können, z. B. beim Oralverkehr oder durch Schmierinfektionen.

Aber die PrEP ist ja in erster Linie eh für Menschen gedacht, die jetzt schon keine oder nicht regelmäßig Kondome verwenden.

Regelmäßige Untersuchungen = weniger Infektionen?

Hinzu kommt (und das finde ich eigentlich am besten an  der PrEP): Bei den schon erwähnten regelmäßigen Arztbesuchen werden die PrEP-Nutzer jedes Mal auf HIV und andere STIs untersucht. Sollte sich jemand mit HIV angesteckt oder eine STI eingefangen haben, werden die Infektionen frühzeitig diagnostiziert und können frühzeitig behandelt werden. Das könnte letztendlich sogar dazu führen, dass die Zahl der Neuinfektionen mit HIV und anderen STIs sinkt.

Und wollen wir nicht genau das mit all unseren Test-Kampagnen erreichen? Dass sich Menschen regelmäßig auf HIV und andere STIs testen lassen? Mit der PrEP könnten wir diejenigen, die viele verschiedene Sexpartner haben und nicht immer Kondome verwenden, die also die meisten Vorteile davon hätten, zu regelmäßigen Tests bewegen.

Die „Medikalisierung schwuler Männer“?

Manche reden mit Blick auf die PrEP von einer „Medikalisierung schwuler Männer“. Aber was haben wir denn erwartet?

Kondome – eine physikalische Barriere zum Schutz vor HIV – waren in den frühen 1980ern eine tolle Idee, wie sich schwule Männer vor HIV schützen können. Und wir können mächtig stolz auf uns sein, dass wir es jetzt mehr als 30 Jahre lang geschafft haben, mit dieser Methode sehr viele HIV-Infektionen zu verhindern.

Aber viele Männer empfinden Kondome eben auch als Lusttöter, als ein notwendiges Übel. Und ich frage mich, wofür sich die Mehrzahl der schwulen Männer entschieden hätten, wenn es damals schon die PrEP gegeben hätte: Kondome oder eine Pille am Tag?

Eins jedenfalls erscheint mir sicher: Alles, was uns der wissenschaftliche Fortschritt in Zukunft noch an neuen Möglichkeiten geben wird, der HIV-Epidemie Herr zu werden, wird biomedizinischer Natur sein.

Die bisher schon erfolgreiche HIV-Prävention in Deutschland?

Glücklicherweise ist die Zahl der jährlichen HIV-Neuinfektionen bei uns im Vergleich zu anderen Ländern recht niedrig und hält sich einigermaßen konstant. Aber wir müssen auch klar sagen: Es steckt sich jedes Jahr eine nicht zu vernachlässigende Zahl von Menschen in Deutschland mit HIV an. Und das eben seit Jahren.

Alles so lassen, wie es ist?

Sagen wir nun: Es ist gut, wie es ist? Oder wollen wir uns noch mehr anstrengen? Immerhin haben wir jetzt etwas Neues: die PrEP. Zwar wird die PrEP alleine nicht der „Game Changer“ sein, der zum Ende der HIV-Epidemie führt – dafür wird es wohl einen hoch wirksamen, günstigen und hitzeunempfindlichen Impfstoff brauchen.

Aber die PrEP kann ein weiterer Bestandteil der sogenannten Kombinations-Prävention sein, bei der man so viele verschiedene Optionen wie möglich in Kombination anzubieten versucht. Jeder kann sich dann die Optionen heraussuchen, die für ihn am besten funktionieren (ein Prinzip, das sich schon bei der HIV-Therapie bewährt hat und das sich eventuell auch bei einer möglichen Heilung von HIV irgendwann mal bewahrheiten könnte).

Anderswo ist man schon weiter

In Deutschland diskutieren wir zurzeit noch über die PrEP. Das ist auch gut so. Aber wir sollten bald dazu übergehen, auch Taten für einen Zugang zu PrEP folgen zu lassen.

Ich spreche dabei bewusst von „Zugang“ und nicht nur von „Zulassung von Truvada zur PrEP“. Menschen, die die PrEP nehmen wollen, müssen dazu auch in der Lage sein – und das bedeutet, dass die Krankenkassen die Kosten übernehmen (denn kaum jemand wird sich € 800 pro Monat für die Tabletten leisten können).

In den USA ist PrEP bereits seit 2012 verfügbar, einige Krankenkassen übernehmen dort die Kosten (übrigens auch in Kanada, wo Truvada nicht zur PrEP zugelassen ist). In anderen Ländern wie zum Beispiel in Australien oder Großbritannien werden bereits Demonstrationsstudien durchgeführt oder sind geplant.

Den Kampf nicht aufgeben, bevor man ihn begonnen hat

Die französische Aidshilfe-Organisation AIDES setzt sich aktiv für einen Zugang zur PrEP in Frankreich ein. Und auch wir werden die Unterstützung von Aidshilfen, der Community, von Ärzten und anderen Institutionen brauchen, um den Zugang zur PrEP zu erreichen: Der Truvada-Hersteller Gilead muss überzeugt werden, die Zulassung von Truvada zur PrEP in Europa zu beantragen, die European Medicines Agency (EMA) muss diese Zulassung für die EU genehmigen, dann müssen die Zulassungsbehörden der einzelnen Mitgliedsstaaten ebenfalls zustimmen, und schließlich müssen die Krankenkassen die Kosten übernehmen. Natürlich wird der hohe Preis von Truvada dabei die größte Herausforderung sein. Aber gegen die übermäßig hohen Preise der neuen Hepatitis-C-Medikamente gehen wir doch auch auf die Barrikaden – warum kein Aufschrei gegen die hohen Preise von PrEP?

Nennt mich „naiv“ oder nennt mich „Aktivist“, aber ich bin nicht bereit, einen Kampf als aussichtslos hinzunehmen, bevor ich ihn überhaupt begonnen habe.

Wider den Schwarzmarkt und die PrEP ohne ärztliche Begleitung

Einzelberichte lassen vermuten, dass es schon jetzt einen Schwarzmarkt für Truvada in Deutschland gibt. Manch einer besorgt sich Truvada auf mehr oder weniger illegalen Wegen, kommt damit aber natürlich nicht in den Genuss der unbedingt notwendigen ärztlichen Betreuung. Stattdessen nimmt er vielleicht die PrEP, ohne vorher verlässlich auf HIV getestet worden zu sein, oder reduziert vielleicht, um Pillen zu sparen, die Dosis, was dann in der Tat zu HIV-Infektionen und auch Resistenzbildungen führen könnte.

Allein schon im Sinne der Schadensreduzierung sollten wir daher einen legalen und bezahlbaren Zugang zur PrEP anbieten.

Worauf warten wir also?

Warten wir auf „long-acting injectables“ – die PrEP in Form einer Spritze, die man einmal im Monat oder eventuell auch nur alle drei Monate bekommt? Diese PrEP-Variante ist zurzeit in der Entwicklung, und die Zwischenergebnisse sehen auch recht vielversprechend aus. Eine Spritze alle drei Monate könnte natürlich sehr positive Auswirkungen auf die Therapietreue haben, weil man nicht mehr jeden Tag daran denken muss, eine Pille zu nehmen. Bis solche Spritzen marktreif sind, wird es aber noch mehrere Jahre dauern. Und da es sich dann um einen komplett neuen Wirkstoff handeln wird, wird diese PrEP auch deutlich teurer sein als die tägliche Einnahme von Truvada heute.

PrEP wird auf längere Sicht Truvada bedeuten

Das Patent für Truvada in Europa wird im Juli 2017 auslaufen. Danach könnten andere Hersteller auch hier Generika auf den Markt bringen, also dieselben Inhaltsstoffe, aber billiger. Um wie viel billiger, weiß man noch nicht – wahrscheinlich lägen die Kosten immer noch in einem Bereich, der für die meisten Leute unbezahlbar ist.

Bis auf Weiteres wird die HIV-PrEP also Truvada bedeuten – entweder als täglich eingenommene Tablette oder eventuell auch „nach Bedarf“, also abhängig davon, wann man Sex hat. (Ob dieses Konzept funktioniert, wissen wir noch nicht. Dazu läuft gerade die sogenannte IPERGAY-Studie, die demnächst auch an Standorten in Deutschland durchgeführt werden soll.)

Die Daten dafür, dass die Truvada-PrEP funktioniert, wenn man sie nimmt, haben wir. Worauf warten wir also noch?

Wollen wir, dass sich mit der PrEP wiederholt, was mit dem EKAF-Statement passiert ist? Seit dessen Veröffentlichung im Jahre 2008 hat es viel zu lange gedauert, bis endlich auch in der öffentlichen Kommunikation die zusätzliche Schutzwirkung erfolgreicher HIV-Therapien anerkannt und propagiert wurde.

Oder wollen wir es dieses Mal, mit der PrEP, richtig machen? Dann sollten wir uns gemeinsam für die PrEP als Element einer modernen und fortschrittlichen HIV-Kombinationspräventions-Strategie starkmachen.


Nicholas Feustel
Quelle: Deutsche AIDS-Hilfe | magazin.hiv