Ein erheblicher Teil der Menschen nichtdeutscher Herkunft hat in Deutschland schlechtere Gesundheitschancen. Die Gründe liegen zum Beispiel in einer bisher nicht ausreichenden Öffnung des Gesundheitsversorgungssystems für Migrantinnen und Migranten, kulturellen und sprachlichen Barrieren sowie einer teilweise migrationsbedingten sozioökonomischen Benachteiligung.
21 Prozent der HIV-Neuinfektionen werden mittlerweile bei Menschen festgestellt, die aus Regionen der Welt zu uns gekommen sind, in denen das Virus besonders heftig wütet. Bei den Aids-Neuerkrankungen machen Menschen nichtdeutscher Herkunft einen – gemessen an ihrem Anteil an der Bevölkerung – überproportional hohen Anteil aus. Viele HIV-positive Migrantinnen und Migranten begeben sich zudem erst sehr viel später in medizinische Behandlung als deutsche Patient(inn)en und erleiden so schwere gesundheitliche Schädigungen. Ein Grund dafür ist, dass vielen Menschen mit Migrationshintergrund der Zugang zu Informationen über HIV und AIDS sowie zu einer angemessenen medizinischen Behandlung auf vielfältige Weise erschwert ist.
Schlechtere Chancen für Gesundheit
Unter dem Begriff „Migrantinnen und Migranten“ werden sehr viele sehr unterschiedliche Menschen zusammengefasst: Das Spektrum reicht von in Deutschland geborenen Menschen, deren Familien nun schon in der dritten Generation in Deutschland leben, bis hin zu Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus in oft besonders prekären Lebenssituationen.
So unterschiedlich diese Gruppen auch sein mögen: Unter gesundheitlichen Problemen, die durch Ausgrenzung entstehen, haben sie fast alle zu leiden – auch ohne HIV. Diskriminierung und Ausgrenzung, mit denen Menschen nichtdeutscher Herkunft hierzulande rechnen müssen, schaden dem körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefinden. Für bestimmte Gruppen ist der Zugang zu den üblichen Leistungen des Gesundheitswesens jedoch besonders erschwert. Der Verband der Initiativgruppen in der Ausländerarbeit (VIA e.V.) definiert sie wie folgt:
- Migrantinnen und Migranten, deren soziokultureller und sprachlicher Hintergrund sich deutlich von der deutschen Kultur unterscheidet
- Migrantinnen und Migranten ohne jegliches Aufenthaltsrecht oder mit ungeregeltem oder eingeschränktem Aufenthaltsstatus einschließlich Minderjähriger, die sich alleine in Deutschland aufhalten und zum Beispiel in der Prostitutionsszene arbeiten
- Migrantinnen und Migranten, die wegen dunkler Hautfarbe oder ihres soziokulturellen Hintergrundes von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit besonders betroffen sind.
Im Wesentlichen wird die gesundheitliche Benachteiligung zurückgeführt auf die bisher nicht ausreichende Öffnung des Gesundheitsversorgungssystems für Migrantinnen und Migranten in Kombination mit kulturellen und sprachlichen Barrieren. Gleichzeitig müssen Migrantinnen und Migranten des öfteren in ihrem neuen Heimatland ein Absinken in einen niedrigeren Lebensstandard hinnehmen. Auch diese oft migrationsbedingte sozioökonomische Benachteiligung spielt eine Rolle bei der schlechteren gesundheitlichen Versorgung.
Soziale Benachteiligung, kulturelle Unterschiede
Überdurchschnittlich viele Menschen nichtdeutscher Herkunft gehören ökonomisch unterpriviligierten Schichten an, die ohnehin schlechtere Gesundheitschancen haben. Sie leiden im Vergleich zu Deutschen häufiger an körperlichen Erkrankungen und psychosomatischen Beschwerden. Dies ist z. B. bedingt durch
- das Leben in sozialen Brennpunkten
- beengte Wohnverhältnisse
- schlechte Ernährung aufgrund von Armut
- harte körperliche Arbeit (bzw. umgekehrt Frustration durch die gesetzlich erzwungene Arbeitslosigkeit z.B. bei Asylbewerbern)
- Fremdheitsgefühle und Diskriminierungs-Erfahrungen
- den Verlust der Heimat und ihrer sozialen „Wurzeln“.
Medizinische Diagnose und Behandlung werden dann oft durch Sprachprobleme und ein kulturell bedingt anderes Krankheitsverständnis erschwert, manchmal fast unmöglich. Und nicht selten kommt es vor, dass die Aufklärung über die Risiken einer Operation mit Hilfe von Putzfrauen des Krankenhauses erfolgt, weil sie die gerade benötigte Sprache sprechen. Es besteht ein erheblicher Mangel an fremdsprachigen Fachkräften und interkulturell kompetentem Fachpersonal. Auch Dolmetscher(inne)n – vor allem solche, die auch den kulturellen Kontext „übersetzen“ können (interkulturelle Mediator/innen), werden dringend benötigt. Wichtig wäre eine gezielte Aus- und Weiterbildung von Menschen mit Migrationshintergrund in Berufen der Gesundheitsversorgung, damit sie ihr interkulturelles Wissen und ihre eigenen Erfahrungen in den Umgang mit Patient(inn)en nichtdeutscher Herkunft einbringen können.
Tabu HIV/AIDS
Benachteiligungen bei der gesundheitlichen Versorgung treffen Menschen mit schweren Erkrankungen wie zum Beispiel einer HIV-Infektion besonders hart. Trotzdem sind spezielle Hilfsangebote für Migrantinnen und Migranten mit HIV/Aids bisher Mangelware. Zwar öffnen sich die traditionellen Anlaufstellen – AIDS-Hilfen, Gesundheitsämter und andere Projekte – schon seit geraumer Zeit auch für diese heterogene Zielgruppe, doch haben viele Hemmungen, Hilfe in Anspruch zu nehmen: weil man Diskriminierung fürchtet, weil es um Tabuthemen geht, weil niemand von der HIV-Infektion erfahren soll – schon gar nicht die eigene „Community“, denn wer dort ausgegrenzt wird, fällt aus allen sozialen Zusammenhängen heraus.
Das Dilemma, das bei einer HIV-Infektion entstehen kann: Wer HIV-positiv ist, wird eher als „Infektionsquelle“ wahrgenommen denn als Mensch, der Hilfe benötigt. Dies gilt umso mehr für Migrantinnen und Migranten mit HIV – erst recht, wenn sie eine dunkle Hautfarbe haben. Manchmal hört man in den Medien, rund 20 Prozent der HIV-Infektionen in Deutschland seien „eingeschleppt“ worden – gemeint sind dann jene Menschen, die aus den besonders stark betroffenen Weltregionen aus verschiedensten Gründen zu uns gekommen und hier positiv getestet worden sind. In der Sprache der Politik und der Medien erscheinen Menschen mit Migrationshintergrund häufig als gesichtslose Masse und Belastung für Staat und Gesellschaft – und eben nicht als Menschen mit einer eigenen Geschichte, existentiellen Gründen zur Migration und persönlichen Erfahrungen und Bedürfnissen. Auf diese Weise entsteht ein Klima, das es – gekoppelt mit der Angst vor Abschiebung – kaum zulässt, sich in sensiblen Gesundheitsfragen vertrauensvoll an deutsche Hilfseinrichtungen zu wenden.
Tatsächlich setzen viele Migrantinnen und Migranten diese Einrichtungen mit staatlichen Behörden gleich, die sie als bedrohlich empfinden. In den AIDS-Hilfen wiederum sehen viele Menschen mit Migrationshintergrund eine „Schwuleneinrichtung“, und schon das Wort Aids setzt die Hemmschwelle sehr hoch. Das gilt vor allem für Menschen aus Kulturen, in denen die Übertragungsmöglichkeiten von HIV stark tabuisiert sind, zum Beispiel homosexuelle Kontakte in islamischen Ländern oder Drogengebrauch in manchen Regionen der ehemaligen Sowjetunion.
Diese Tabus sind verhängnisvoll: Aus Angst davor, erkannt und diskriminiert zu werden, trauen sich viele Migrantinnen und Migranten nicht, Beratungsstellen aufzusuchen, und gehen oft erst dann zum Arzt, wenn sie bereits schwer krank sind. Viele verschweigen ihr positives HIV-Testergebnis oder lassen sich gar nicht erst testen. Wer aber nichts von seiner Infektion weiß, kann das Virus unwissentlich an andere weitergeben und kann auch nicht die Therapiemöglichkeiten nutzen.
Unwissenheit, Scham und Angst vor Ausgrenzung prägen den Umgang mit dem Virus. Abhilfe schaffen kann nur der Versuch, in den Migranten-Communities das Gesundheitsbewusstsein zu stärken und Aufklärungsstrategien zu entwickeln, die kulturelle Besonderheiten berücksichtigen. Wie lässt sich beispielsweise die sexuelle Übertragbarkeit von HIV thematisieren, wenn Sexualität kein Thema sein darf? Und was lässt sich einer Frau raten, die beim Sex mit ihrem untreuen Mann gerne Kondome verwenden möchte, deren Erziehung ihr jedoch verbietet, eigene Wünsche bei diesem Thema durchzusetzen? Bei Fragen, die Tabubereiche und die Geschlechterordnung berühren, sind Antworten gewiss nicht leicht zu finden. Sie werden jedoch für eine wirkungsvolle Präventionsarbeit gebraucht.
Unabdingbar ist dabei nicht nur eine Kooperation mit den Menschen, um die es geht, sondern auch eine weitgehende Partizipation – d.h. aktive Beteiligung an der Entwicklung von Projekten und zielgruppengerechten Printmedien. Anknüpfungspunkte gibt es, denn betroffene Migrantinnen und Migranten haben nunmehr damit begonnen, sich in eigener Sache zu engagieren. So finden zum Beispiel auf Einladung der Deutschen AIDS-Hilfe bundesweite Treffen für HIV-positive afrikanische Migrantinnen und Migranten statt, inzwischen ist sogar der Zusammenschluss von regionalen afrikanischen Multiplikatoren zu einem Netzwerk gelungen. Auch an der Bundespositivenversammlung vom 26.08.2004- 29.08.2004 in Kassel nahmen zahlreiche Menschen mit Migrationshintergrund aus verschiedenen Ländern teil.
Quelle: Migrationsrat Berlin-Brandenburg e.V.
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