Die Asylpakete 1 und 2 verschärfen die ohnehin schwierige Situation von Flüchtlingen. Auch die Lage Geflüchteter mit HIV könnte sich verschlechtern. Tanja Gangarova, DAH-Referentin für Migration, erinnert im Interview daran, dass das Menschenrecht auf Gesundheit bedingungslos gelten sollte.
Dieser Beitrag erschien zuerst im Magazin HIV & more 1/2016.
Frau Gangarova, stimmt es, dass auch Kranke in Zukunft leichter abgeschoben werden können?
Ja. Als Abschiebehindernis zählen nach dem Gesetzesentwurf nur lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Dass die Bundesregierung psychologische Gutachten nicht mehr anerkennen will und posttraumatische Belastungsstörungen nicht als schwere Erkrankung ansieht, verdeutlicht die Härte des Vorgehens.
Gehört HIV zu diesen lebensbedrohlichen Erkrankungen?
Prinzipiell ja, denn HIV kann unbehandelt zum Tod führen. Das heißt in der Praxis aber nicht automatisch, dass Menschen mit HIV von der Abschiebung verschont bleiben.
Haben Flüchtlinge mit HIV zumindest bessere Chancen?
Ich fürchte nicht. Es war auch bisher nicht einfach, die HIV-Infektion als Abschiebehindernis anzuerkennen. Die Rechtsprechung geht davon aus, dass eine antiretrovirale Therapie in den meisten Herkunftsländern zur Verfügung steht.
Liegen Ämter und Gerichte denn falsch, wenn sie von der Verfügbarkeit der Therapie im jeweiligen Land ausgehen?
Meist werden nur die Botschaft des jeweiligen Landes oder staatliche Behörden befragt. Gutachten von großen Nichtregierungsorganisationen finden oft keine Berücksichtigung. Doch die Aussagen der Regierungen spiegeln in der Regel nicht die reale Versorgungssituation wider. In manchen Ländern sind HIV-Therapien zwar prinzipiell vorhanden, aber zum Beispiel nicht in ländlichen oder durch Gewalt erschütterten Gebieten. Eine „ausreichende medizinische Versorgung“ ist nach dem neuen Gesetzesentwurf in der Regel aber schon dann anzunehmen, wenn sie „nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist“. Damit wird es womöglich noch einfacher, Menschen mit HIV abzuschieben, ohne dass sie in ihren Heimatländern einen realisierbaren Zugang zur Behandlung haben.
Das Asylpaket 2 gibt auch vor, das Asylverfahren bei einer Vielzahl von Asylsuchenden beschleunigt durchzuführen. Dies betrifft unter anderem Menschen aus sicheren Herkunftsstaaten und Flüchtlinge ohne Papiere. Dieses „Eilverfahren“ ermöglicht kein faires Verwaltungs- und Gerichtsverfahren. Eine eingehende Prüfung lässt sich nicht in einer Woche erledigen!
Das Asylpaket 2 fordert auch, dass ein Attest die lebensbedrohliche Erkrankung dokumentieren muss.
Ja, und zwar mit sehr strengen Vorgaben. Liegt ein solches Attest nicht fristgerecht vor, wird es nicht berücksichtigt. Ein solches Attest „unverzüglich“ zu beschaffen, wird in der Praxis oft nicht möglich sein. Dazu kommen die Komplikationen, die durch die Auslegung des Attest-Ergebnisses entstehen können.
Muss man Flüchtlinge angesichts der neuen Situation zum HIV-Test ermutigen?
Flüchtlinge sollen Zugang zu Information, Test und Beratung haben wie alle anderen Menschen, und der Test sollte auch für sie freiwillig sein. Wichtig ist vor allem, dass sie wissen, was ihre Rechte in Deutschland sind.
Also nicht per Zwangstest wie in Bayern?
Ganz sicher nicht. In Bayern werden alle Asylsuchenden systematisch getestet, teils ohne ihr Wissen und Einverständnis. Dieses Vorgehen widerspricht den Menschenrechten und allen nationalen und internationalen Empfehlungen zum HIV-Test, die ein informiertes Einverständnis fordern.
Was sehen die Asylpakete der Bundesregierung noch vor?
Sie sorgen für eine Renaissance altbekannter Probleme bei der Versorgung von Flüchtlingen. Ein Beispiel ist die Residenzpflicht: Einige Bundesländer hatten sie gelockert, jetzt gilt sie wieder für die Dauer des Verbleibs in den Erstaufnahmeeinrichtungen – also bis zu sechs Monate. Das heißt, Flüchtlinge dürfen den Bezirk der Ausländerbehörde, in der ihre Aufnahmeeinrichtung liegt, nicht verlassen.
Wie wirkt sich die Residenzpflicht auf Menschen mit HIV aus?
Gangarova: Wenn Flüchtlinge mit HIV an abgelegenen Orten untergebracht sind, kann der Besuch in einer HIV-Schwerpunktpraxis zu einer Odyssee werden. Sie müssen vorher die Ausländerbehörde aufsuchen, um eine Befreiung von der Residenzpflicht zu beantragen, und dann lange Reisewege und hohe Fahrtkosten in Kauf nehmen – nur um zum Arzt zu gehen!
Wie viele Flüchtlinge sind von den geschilderten Problemen betroffen?
Derzeit gibt es keine Indizien dafür, dass Flüchtlinge überproportional von HIV betroffen sind, zumal die allermeisten der aktuell nach Deutschland kommenden Menschen aus Ländern mit niedrigen HIV-Prävalenzen stammen. Wenn aber insgesamt mehr Menschen nach Deutschland kommen, wird es nicht ausbleiben, dass auch Menschen mit HIV dabei sind. Das spiegelt sich langsam auch in der Arbeit von Aidshilfen wider.
Was bedeutet die Verschärfung des Asylrechts für Beratungsstellen und medizinische Einrichtungen?
Das kann man momentan noch nicht realistisch beurteilen. Wir brauchen auf jeden Fall verstärkte Kooperation zwischen allen Beteiligten: Medizinische Einrichtungen, Gesundheitsämter, Migrationsberatungsstellen und Aidshilfen vor Ort. Niederschwellige Beratungsangebote mit Einsatz von Sprachmittler_innen und die Anwendung mehrsprachiger Medien sollten stärker gefördert werden. Die politische Arbeit muss verstärkt werden. Die Initiativen von Ärzte der Welt, MediBüro und ProAsyl sollen zukünftig noch mehr Unterstützung finden.
Abgesehen von Asylpaket 1 und 2: Welche Herausforderungen zeichnen sich im Umgang mit der steigenden Flüchtlingszahl sonst noch ab?
Wir sollten uns darauf einrichten, dass auch viele Menschen, deren Asylanträge abgelehnt werden, in Deutschland bleiben. Diesen Weg werden gerade diejenigen gehen, denen in ihrem Land große Not droht. Wir wissen auch, dass sich viele Flüchtlinge erst gar nicht registrieren lassen. Im Klartext: Die Zahl der Menschen ohne Papiere wird sehr wahrscheinlich zunehmen. Genau für diese Gruppe haben wir aber in Deutschland kein funktionierendes medizinisches Versorgungssystem.
Auch Menschen ohne Papiere haben doch einen Anspruch auf ärztliche Behandlung?
Formal ja. Doch die behandelnden Einrichtungen müssen sich zur Kostenerstattung an das Sozialamt wenden, das gemäß § 87 Aufenthaltsgesetz zur Datenübermittlung an die zuständige Ausländerbehörde verpflichtet ist. Der „verlängerte Geheimnisschutz“, der nicht nur für medizinisches Personal, sondern auch für Angestellte der Sozialämter gilt, greift nur bei Notfallbehandlungen und nicht bei der Behandlung einer HIV- Infektion. Aus Angst vor Abschiebung suchen viele kranke Menschen ohne Papiere daher gar nicht erst die nötige medizinische Hilfe.
Was für eine Lösung könnte es für dieses Problem geben?
Ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung ist die Streichung von §87 Aufenthaltsgesetz. Wenn jemand medizinische Hilfe in Anspruch nimmt, darf das nicht zur Weitergabe der persönlichen Daten an die Ausländerbehörde führen. Langfristig sollen alle in Deutschland lebenden Menschen Zugang zur Regelversorgung erhalten – unabhängig von Aufenthaltsstatus und Herkunftsland. Das erfordert unter anderem die Abschaffung der eingeschränkten Gesundheitsversorgung durch das Asylbewerberleistungsgesetz.
Was können wir heute noch tun, um die Situation ganz konkret zu verbessern?
Viele Ärztinnen und Ärzte tun ja schon eine Menge, etwa indem sie auch Menschen ohne Papiere behandeln und diese mit Medikamenten versorgen. Aidshilfen und andere Einrichtungen beraten und unterstützen Menschen – ob mit oder ohne Papiere. Das ist natürlich gut, aber keine wirkliche Lösung. Wir müssen darauf hinwirken, dass die Politik uns mit diesen Problemen nicht alleine lässt!
von Holger Wicht (31. März 2016)
Quelle: Deutsche AIDS-Hilfe | magazin.hiv