Was es bedeutet, mit HIV in die Jahre zu kommen, hat erstmals die Studie 50plusHIV untersucht. Unser Dossier zum Thema nimmt die aufs positive Alter gerichteten Gedanken, Wünsche, Hoffnungen und Planungen genauer unter die Lupe.
Dank der modernen HIV-Therapien steigt die Zahl älterer Menschen mit HIV in Deutschland und vergleichbaren Ländern beständig an. Wer sich heute mit 30 Jahren infiziert, hat bei rechtzeitiger Diagnose und Behandlung eine Lebenserwartung von 75 Jahren. Etwa ein Drittel der derzeit auf 83.000 geschätzten Infizierten hat wahrscheinlich schon das 50. Lebensjahr erreicht.
Wie aber sieht die Lebenswirklichkeit älterer HIV-Positiver in Deutschland heute aus, und welche Versorgungsangebote brauchen sie? Umfangreiche Daten hierzu liefert erstmals die Studie 50plusHIV, die von Juni 2014 bis Dezember 2015 an der Goethe-Universität Frankfurt und der Freien Universität Berlin durchgeführt und von der DAH inhaltlich unterstützt wurde. Dazu wurden über 900 HIV-Positive zwischen 50 und 83 Jahren per Fragebogen und Interviews befragt.
Deutlich wird: Trotz guter Versorgung und hoher Therapietreue nehmen die medizinischen und psychosozialen Herausforderungen mit dem Alter zu, und unsichere Lebensverhältnisse sind stark mit gesundheitlichen Risiken verbunden. Das gilt vor allem für Frühverrentete, langjährig Drogen Gebrauchende und Frauen mit unterbrochener Erwerbsbiografie.
HIV wiederum ist auch hierzulande ein Risikofaktor für Armut. So gaben 14 % aller Befragten an, dass sie auf die staatliche Grundsicherung angewiesen sind – ein siebenmal so hoher Anteil wie in der Gesamtbevölkerung. Bei den älteren Frauen mit HIV ist das sogar zehnmal häufiger der Fall als bei den Frauen in der Gesamtbevölkerung.
Rund 30 % aller Befragten sind von Armut gefährdet – und zugleich häufiger von Begleiterkrankungen wie etwa Krebs, Leber- und Lungenerkrankungen oder chronischen Schmerzleiden betroffen als Befragte mit höherem Einkommen. Auch das psychische Wohlbefinden hängt mit dem sozioökonomischen Status zusammen. Fast ein Drittel der Armutsgefährdeten berichtete von mäßigen oder schweren ängstlich-depressiven Symptomen – dieser Anteil sinkt mit steigendem Einkommen.
Wie schon unsere Befragung „positive stimmen“ belegt auch 50plusHIV, dass HIV-Positive in erheblichem Maß Stigmatisierung und Diskriminierung erleben. Am häufigsten berichteten die Befragten von verweigerter medizinischer Hilfe oder unfairer Behandlung im Gesundheitswesen (44 %).
Bemerkenswert ist, dass die meisten HIV-Positiven bei der Frage nach ihren Wohnwünschen fürs Alter Angst vor Stigmatisierung in den Pflege- und Versorgungseinrichtungen zum Ausdruck brachten – unabhängig vom sozialen Status, der sexuellen Orientierung und dem Geschlecht. Es wundert daher nicht, dass nur 4 % der Befragten im Fall einer Pflegebedürftigkeit ins klassische Alters- oder Pflegeheim wollen. Dagegen bevorzugen je ein Viertel das betreute Wohnen oder eine private Wohngemeinschaft. Wohnformen wie das Mehrgenerationenhaus oder Wohnprojekte für ältere Menschen wünschen sich 18 bzw. 13 %.
Bei der Wahl einer Wohnform ist für 78 % der Befragten vor allem der sensible Umgang mit ihrer HIV-Infektion wichtig, eine Spezialisierung auf HIV für immerhin 71 %. Einen sensiblen Umgang mit ihrer sexuellen Orientierung wünschen sich drei Viertel der schwulen Männer, und 65 % der Drogengebraucher_innen möchten, dass einfühlsam auf ihre Belange eingegangen wird.
Die Studie 50plusHIV bestätigt einmal mehr, dass die Träger und Beschäftigten im Altenhilfesystem auf HIV-Positive vorbereitet werden müssen. Das 2015 von der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) gestartete Projekt „HIV und Alter“ will ihnen dabei vor allem den „Diversity“-Ansatz nahebringen, damit sie für Menschen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen, sexuellen Orientierungen und kulturellen Prägungen eine möglichst diskriminierungsfreie Versorgung sicherstellen können.
Außerdem will die DAH erreichen, dass das Thema „HIV, Alter und Vielfalt“ in der Altenhilfe und Altenpflege-Ausbildung verankert wird, und setzt deshalb auf eine verstärkte Kooperation mit Einrichtungen, Verbänden und Organisationen aus diesem Bereich sowie die enge Vernetzung mit Akteur_innen in den Feldern Drogenkonsum, Migration, Homo- und Bisexualität sowie Trans*-Menschen. Ein wichtiger Bündnispartner ist beispielsweise die Bundesinteressensvertretung schwuler Senioren – BISS.
Dossier „HIV und Alter“
Viele der bisher genannten Aspekte des Älterwerdens mit HIV finden sich auch in unserem Dossier „HIV und Alter“, das wir ab Mittwoch auf magazin.hiv veröffentlichen werden. In den darin gesammelten Beiträgen kommt vor allem der persönliche Blick auf das Thema zum Tragen:
● Thomas Schützenberger und Michèle Meyer sind schon seit vielen Jahren HIV-positiv und haben 2015 ihren Fünfzigsten gefeiert. Bernd Aretz hat mit den beiden über wichtige Stationen ihres Lebens mit HIV gesprochen und darüber, wie sie im Alter leben möchten.
● Lenore, Paul und Marlies – alle in den 30ern und HIV-positiv – ist bewusst, dass man heute dank Medikamenten ganz normal alt werden kann. Wie sie mit dieser Tatsache umgehen und wie das Älterwerden ihren Alltag beeinflusst, hat das HIV-Magazin „hello gorgeous“ festgehalten.
● Stephen Karpiak, Meredith Greene und Richard Havlik, die zu „Altern mit HIV“ forschen, machen das erhöhte Risiko von Menschen mit HIV für altersbedingte Gesundheitsprobleme wie etwa Herz- und Nierenerkrankungen, Krebs, Osteoporose oder Depressionen zum Thema. Sie zeigen aber auch auf, wie man ihnen vorbeugen kann und was im Erkrankungsfall ratsam und hilfreich ist.
● Nach 30 Lebensjahren mit HIV nähert sich Christina Heusel langsam dem Rentenalter. Dabei hatte sie nie gedacht, sich einmal mit den Problemen des Alterns und einer möglichen Pflegebedürftigkeit beschäftigen zu müssen. Die examinierte Krankenschwester war selbst in der Altenpflege tätig und macht im Gespräch mit Bernd Aretz deutlich, worauf es dabei ankommt.
● Ein Beispiel guter Praxis ist der von Nadia Qani betriebene Dienst für kultursensible Pflege, der Kunden aus aller Welt betreut. Dass dazu auch auch Schwule, Lesben und HIV-Positive gehören, ist für die vielfach ausgezeichnete Unternehmerin selbstverständlich. Den bereits im Oktober 2015 auf magazin.hiv veröffentlichten Beitrag haben wir in dieses Dossier aufgenommen.
● Auf gelebte Vielfalt setzt auch das Sozial- und Rehazentrum West in Frankfurt-Rödelheim. Erreicht wird das durch fortlaufende Sensibilisierung der im Haus Tätigen und eine klare Haltung gegen jegliche Form der Diskriminierung, auch durch Bewohner_innen und deren Angehörige.
● Als Junkie alt zu werden, schien lange fast unmöglich. Geändert hat sich das erst durch die infolge der Aidskrise geschaffenen Angebote wie Spritzentausch, Anlaufstellen, Konsumräume und Substitution. Bernd Aretz hat mit Marco Jesse darüber gesprochen, wie sich für alternde Drogengebaucher_innen eine angemessene Versorgung sicherstellen lässt.
● Wenn man Pech hat, ist es für Regelungen wie Patientenverfügung, Vollmacht, Testament oder Totensorge zu spät, gibt Bernd Aretz zu bedenken und erklärt im letzten Teil des Dossiers, was er in Sachen Vorsorge für sinnvoll hält.
von Christine Hoepfner (16. Februar 2016)
Quelle: Deutsche AIDS-Hilfe | magazin.hiv